von Stephan Kirste
Wie die Rennen begannen, konnte niemand von uns sehen. Der Startplatz lag zu weit entfernt und war verdeckt durch eine Reihe hoher grüner Hecken, die entlang der Rennbahn standen. Erst in der Kurve sah man die Helme der Jockeys, dann ihre Schultern und Oberarme und später die in der Raserei sich wiegenden Rücken der Pferde, und erst sah man sie vollständig, als der ganze Haufen aus der Kurve zu uns, die wir auf der Tribüne saßen, in die Zielgerade flog. Und erst als sie ganz nahe bei uns waren, kurz vor der Ziellinie, konnten wir die Pferde, und dann nur unter Mühen, auseinanderhalten.
Deutlich und mit der nötigen Ruhe sahen wir die Pferde nur vor den Rennen. Dann, wenn die Reiter auf ihren Pferden einzeln vor die Tribüne kamen, uns, die Zuschauer, fest im Auge, sich verbeugten und nicht vergaßen, den Hut zu ziehen, anschließend umwendeten und stürmisch zum Startplatz davon galoppierten, um vor uns den Anspruch auf den Sieg zu erheben, schließlich konnte jetzt noch gewettet werden.
Anfangs irritierte uns das unübersichtliche Geschehen, aber später verlor sich das. Wir mussten einsehen, dass wir nicht alles, was sich hier dem Auge bot, wahrnehmen konnten und begnügten uns mit einer – naturgemäß – begrenzten Beobachtung. Dadurch wurden wir, schwierig zu verstehen, irgendwie unbeschwerter. Unser Interesse galt ja nicht einem bestimmten Ausgang der Rennen. Wir fragten uns nur, ob wir vor dem Rennen den Sieger bereits erkennen können. Freunde, denen wir abends noch in der Empfindung, die der heutige Tag in uns geweckt hatte, zugegeben in heillosem Durcheinander, alles erzählten, wurden zusehends verständnisloser, und als wir das nicht bemerkten, wie es eben das Erzählen noch unter der Wirkung des Erlebten mit sich bringt, wurden sie sehr ärgerlich.
Und da begriffen wir dann. Immer ungeduldiger hatten sie gewartet, bis wir endlich zur Sache kämen, ihnen eine Geschichte erzählten oder ein besonderes Ereignis, von einem außergewöhnliche Pferd erzählten etwa oder einem spannenden Rennen mit möglichst tragischem Ausgang oder dergleichen. In ihrer Ungeduld hatten sie nicht zuhören können, als hätten wir uns in diese Art von Einleitungen verrannt, die man im Allgemeinen nur allzu gerne überspringt. Wir hingegen redeten uns in Begeisterung über mehr oder weniger zufällige Kleinigkeiten, belanglose Details unter Umständen, auch das zugegeben, aber immerhin, so sahen wir es, über die menschlichen Eigenarten der bis heute uns fremd gewesenen Tiere. Was wir, unseren Freunden zufolge, ohne Sinn und Verstand erzählten, war, um es kurz zu machen, folgendes:
Im ersten Rennen, das wir sahen, blieb ein Pferd mit der Nr. 3 einfach stehen, gerade als vor uns sein Reiter nach dem Hutziehen davon stürmen wollte, um uns die außergewöhnlichen Kräfte seines Pferdes zu zeigen. Ein Bursche sprang mit hilfsbereiten Armen hinzu, nachdem der Reiter mit wütenden Rufen, die er vor uns zu verbergen suchte, ihn zu sich befahl und als er dann merkte, dass ihm dies nicht gelungen war, sich bei uns mit einer kläglichen Armbewegung entschuldigte. Mehr um dem Zugriff der hilfsbereiten Hände zu entgehen, setzte das Pferd sich in Bewegung und bemühte sich gleichgültig, dem Verlangen seines Reiters nachzukommen, mit einer Widerwilligkeit, so als sträube es sich für heute zu gewinnen.
Drei Pferde waren diesem längst voraus gelaufen. Eines angestrengt sauber im Gang, mehr ließ sich nicht bemerken, obwohl wir ihm noch nachblickten, ein anderes mit hochgerecktem Kopf wild nach oben schlagend, das Maul weit aufgerissen, mit großen Nüstern und mächtigen Adern am Hals, arrogant, vermutlich stolz auf seine Abstammung, und das Vorletzte von den insgesamt Vieren hüpfte mit ausholenden Schritten unter leichtem Kopfschütteln von uns.
Bald nach dem Start, den der Lautsprecher uns aufgeregt zurief, jagten die Pferde mit enormer Schräglage aus der Kurve, die letzten hundert Meter vor sich. Nummer 3, die vor dem Rennen so lange bei uns stehen geblieben war und vor dem Gewinnen sich sträubte, so hatten wir es empfunden, gewann mit Abstand. Wir hatten es also geahnt.
Sofort fielen vor uns die Pferde in den Galopp, um sich für das nächste Rennen zu empfehlen. Ein Rappe warf bei jedem Schritt seinen Kopf nach vorne, als wolle der träge Körper nicht nach. Der nächste Reiter trieb sein Pferd erst in den Galopp, als er unserer Aufmerksamkeit sicher war: Dafür in einen gewaltigen Galopp. Die angespannte Kraft des Pferdes beeindruckte uns; der Hengst fußte auf, als könne er den Boden zertrümmern. Aber war er wirklich so stark und vor allem, worauf es hier ankam, war er auch schnell?
Hinter ihm kam ein kleines Pferd. Es schritt schnell, konnte aber den Abstand zu den Vorlaufenden nicht verringern, gefolgt von einer hellen Stute, die leichtfüßig an uns vorüberzog. Den Kopf hielt sie von uns abgewendet. Die Leichtigkeit ihres Laufens verursachte ihr mehr Anstrengung, als der schöne gleichmäßige Gang ihres Körpers vorgab. Beim Letzten fiel sein gerader Lauf auf; jeglicher Rhythmus war dieser Bewegung fremd. Streng hielt es seinen Kopf nach vorne gerichtet, während die Hinterbeine energisch traten. Start, schrie wieder der Lautsprecher. Im wilden Zweikampf, der sie sichtlich das Allerletzte kostete, kämpften sich vor unseren Augen zwei Pferde Nase an Nase über die Ziellinie. Es waren der Rappe, der seinen Kopf bei jedem Schritt nach vorne warf und ein anderes Pferd mit einer roten Nummer. Dieses Pferd mussten wir übersehen haben. Es war uns einfach nicht aufgefallen. Während oben im Turm die Herren beratschlagten, wer gewonnen hat, suchte der Rappe sich den Weg zu den Fotografen, die für den Sieger bereit standen. Man ließ ihn, und gleich kam die Bestätigung. Tatsächlich, der Rappe hatte das Rennen gewonnen. Das Pferd mit der roten Nummer stand bescheiden beiseite, wer war es? Kommt unbeobachtet und lässt sich nur knapp schlagen!
Wir hatten keine Zeit zum Nachdenken. Wieder fielen vor uns die Teilnehmer des nächsten Rennens in Galopp und beanspruchten unsere Aufmerksamkeit. Das Pferd, das das Feld anführte, ein großer Wallach, schielte zu uns hinauf, während er beherrscht und versammelt an uns vorbeigaloppierte, ohne dadurch langsam zu sein. Ganz anders das Nachfolgende, eine Stute mit geflochtener Mähne, sie heftete den Blick auf den Boden der Bahn. Sie wollte uns nicht sehen und schien verliebt in ihre verspielte Bewegung. Jetzt gab es Schwierigkeiten. Ein schwarzer Hengst, ein wilder Kerl, mit Muskeln, mächtiger als bei allen Bisherigen, musste selbst im Galopp zum Startplatz geführt werden, nicht genug, dass er vorher zu uns gezerrt worden war, zwei Stallburschen hingen dem Tier am Hals, zerrten am Halfter und rannten was die Beine hergaben und wurden von den Hufen nicht getroffen.
Vor uns trat ein Pferd auf der Stelle, ja es galoppierte mit schwingenden Schultern, ohne sich nennenswert wegzubewegen, so als könnten wir uns nicht satt an ihm sehen. Eine Nummer 5 bemühte sich schwerfällig vorüber, zielstrebig verfolgt von einer Kleinen mit heftigen Schritten, das Maul verzogen vor Ehrgeiz, den Kopf gesenkt.
Start: Der Schwerfällige kam zu spät aus dem Gitter, hörten wir den Lautsprecher. Von Beginn an quälte er sich im Kampf um den letzten Platz. Die Spitzengruppe war heran. Der, der zu uns heraufschielte, während er beherrscht und versammelt an uns vorbeigaloppierte, der große Wallach, der gewann. Selbst vor dem Ziel, wo andere kämpften, schaute er zu uns herüber. Die Stute mit der geflochtenen Mähne setzte sich mit wenigen Schritten vor der Linie an ihren Konkurrenten vorbei auf Platz 2 und wich ab da, und nicht nur vor den Fotografen, dem Sieger nicht mehr von der Seite.
Das schönste Pferd des Tages war zum vierten Rennen gemeldet. Sorgfältig hielt es vor uns den Kopf an seine Brust – ein gebogener Hals wie aus dem Lehrbuch – und bewegte sich ausgesucht langsam. Schon damit schien der Jockey überfordert. Bei jedem Schritt fiel er dem Tier auf den schönen Hals. Ein Pferd, das hinterherlief, machte einen sehr bescheidenen Eindruck: Es schien das schöne Pferd nachmachen zu wollen. Das Nächste wirkte sehr in sich gekehrt, sah nichts und niemand und wurde überholt von einem ganz ungestümen Wesen, das sich ganz weit nach vorne drängte. Der Jockey brauchte trotzdem mehrere Versuche, dieses Tier oben am Startplatz in das Startgitter zu bekommen, meldete alsbald der Lautsprecher, drei Mann waren nötig, es von hinten ins Gitter zu schieben. Es duckte sich blitzschnell in die Vorderbeine und wich zur Seite aus. Später im Rennen führte es sogar die meiste Zeit. Es hatte also mit dem Ausweichen nicht viel Kraft verloren. Verblüffend, drückt sich vor dem Rennen und gewinnt beinahe! Aber es gewann der Schöne. Im Endspurt sprang er mühelos vor und setzte sich ausreichend vor dem Ziel an die Spitze.
Das nächste Rennen gewann ein Pferd, das sehr kräftig war, kräftig war es gewiss, aber es hatte überhaupt keine Allüren, das fiel auf. Gestartet war es mit einem Schimmel, der klein und langweilig war, doch irgendetwas ließ uns in seiner Beurteilung vorsichtig werden. Aber der Schimmel wollte uns nicht überraschen und versteckte sich im Mittelfeld. Hinter den drei Pferden hielt er sich auf, die ja, gleich alle drei diesmal, von Stallburschen zu den Startboxen geführt werden mussten. Eines war ganz schlimm gewesen, es lief nicht an, fiel ständig in den Trab zurück und war ohne Führung keinen Schritt zu bewegen. Das beobachtete mit staunenden Augen eine Stute, die selbst wehleidig oder kompliziert zu sein schien. Auf den ersten Blick wenigstens. Im Rennen dann warf sie ihren Reiter ab und ließ sich beim Einfangen alle Zeit der Welt. Noch dabei waren zwei, die sich in ihrer Zierlichkeit ähnlich waren und vermutlich noch nie gewonnen hatten. Sie liefen leicht seitwärts und blieben beisammen, Leib an Leib.
Nummer 6 nicht zu vergessen. Es war diesmal ein großes Rennen mit 8 Teilnehmern auf weite Distanz. Nummer 6 langte im Schritt nicht viel zu, zeigte eigentlich überhaupt nichts, schien aber viel auf sich zu halten. Ja, dieser kräftige Kerl kämpfte mit, konnte aber später den Anschluss nicht finden.
Das nächste Rennen gewann ein Pferd, das, wie es uns schon bei anderen vor ihm auffiel, ohne Führung nicht ging und zudem sehr hässlich war, und das letzte Rennen gewann ein nervöses Pferd mit ständigem Zucken in den Flanken und dünnen Beinen.
Wir waren verwundert. Kann hier jeder gewinnen?