von Stephan Kirste
Beobachtungen auf einem oberbayerischen Pferdemarkt
7.00 Uhr morgens. Kalter dichter Nebel liegt über dem Schlachthof. Pferdetransporter rumpeln über’s Kopfsteinpflaster. Bremslichter leuchten für kurze Augenblicke die schäbigen Backsteingebäude an. Laderampen senken sich nieder. Eilig versuchen die Fuhrknechte, mit ihren groben Händen Stroh auf die Rampe zu werfen, da aber jagen schon die aufgeschreckten Pferde aus den Transportern, aufatmend, daß sie endlich der qualvollen Enge entfliehen.
Hufgeklapper hallt über den Hof. Geruch von Blut und Verwesung hängt in der Luft. Nervöses Geschnaube, hektisches Gedränge herrscht am Pferdeeintrieb. Aufgeregt geweitete Nüstern stoßen feuchtwarmen Atem in den Nebel.
Am Eingang steht breitbeinig, im weißen Kittel, der junge, diensthabende Veterinärarzt und stoppt unerbittlich jedes Pferd. Kein Tier darf, ohne von ihm überprüft zu sein, zum Verkauf angeboten werden.
Ein paar Pferde wollen, vom Laster runter, gleich in die Halle durchlaufen und sträuben sich dagegen, aufgehalten zu werden. Selbst von den kräftigen Stallburschen der Pferdehandlung sind sie kaum zu bändigen, obwohl die jungen Kerle sich mächtig ins Zeug legen, an dem Pferd zerren, den Strickhalfter um Lippen und Unterkiefer festzerren, drohende Rufe ausstoßen und mit harten Stößen in die Rippen nachhelfen. Der Amtsarzt greift in der Hauptsache unter den Kiefer und blickt eher gelangweilt in die verwirrt großen, braunen Pferdeaugen. Dann erst gibt er den Eintritt frei. Nur ein einziges Mal, bei einem aufgeregten Hengst, einem ganz ungestümen Wesen, tritt er sogleich resigniert zur Seite, und blickt dann dem großrahmigen Pferd, das in die Halle stürzt und seinem Besitzer davonläuft, achselzuckend und doch auch anerkennend nach.
Aber so streng sich der Herr am Tor in der Regel auch gebärdet, durch seine Prüfung am Eingangstor (Pferdeeintrieb) fällt kein einziges Pferd.
Die riesige Halle fasst mehrere tausend Pferde, mehrere tausend Besucher. Ein paar hundert Schaulustige sind bereits da und drängeln sich an den Buden und Ständen, begutachten Sattel und das ganze Pferdegebrauchszeug. Dicke Pferdewürste sieden in heißen Kesseln, Pferderückensteak bruzzeln auf meterlangen Grills. Stechender Geruch von Pferdefleisch durchzieht die Halle. Viel Volk versammelt sich bei den Wirtshausbänken. Bier wird ab 8.oo Uhr ausgeschenkt. Und gleich sind ein paar unermüdliche Zecher schon betrunken.
Fürchterliches Gedränge herrscht in den Gängen. Rote Gesichter schieben sich durch die Menge, Kinder, dicke Bäuche, über den Arm gehängte Gehstöcke, Gamshüte, Trachten, Herausgeputzte, Fachleute, neugierige Bauern, verschlafene Stadtbewohner, Staunenswütige, Pferdeverrückte, Versoffene …
In langen Reihen sind die Pferde angebunden. Vielleicht hundert. Einige Pferde verharren bewegungslos, manche schlagen still hin und wieder mit den Hinterhufen aus, andere halten den Kopf gesenkt und wirken niedergeschlagen. Zwei, dicht zusammengerückt, werfen wütende Blicke auf die Besucher. Eine dünne Stute schüttelt unentwegt den Kopf, als hätte sie nach langem Grübeln aufgegeben. Ein mächtiger Kerl, ein Hengst mit zitternden Flanken, kurzangebunden wie alle, bemüht sich aufzubäumen so gut es geht. Er zieht verbissen an dem starken Seil, bis sein ganzer mächtiger Körper vibriert, gibt dann plötzlich nach, geht in die Knie, duckt sich und springt mit einem Ruck auf, dass man meint, sein Nasenbein bricht, als der Strick sich strafft und den Kopf herunterreißt.
Die Besucher, alles Pferdekenner allesamt, Fachleute allesamt wie es scheint, begutachten den Gesamteindruck der zur Schau gestellten Tiere, beklagen lauthals Senkrücken und Hirschhals, befühlen die Fesseln, fahren mit zwei Finger die Wirbelsäule entlang und vermessen mit einem Maßstab das ganze Tier. Unentwegt wollen sie das Gebiß sehen. Den Kopf dabei fest im Griff, unterstützt von drohenden Ausrufen und überraschend heftigen Bauchtritten, schieben sie die Pferdelippen hoch und weisen die Umstehenden mit Sachverstand auf das gelbe versabbelte Gebiß hin. Nach einem zufriedenen, flüchtigen Blick in die neugierige Runde, fahren sie mit ihrer Arbeit fort, reißen die Hufe vom Boden, heben den Schweif an…
Unbeachtet von allem schmusen Kinder hingebungsvoll mit einer Haflinger Stute und ihrem Fohlen, küssen ihre Nüstern und pusten mit gespitzten Lippen ihnen ins Ohr. Die Stute schmiegt sich stolz an ihr Junges, wie von soviel Zärtlichkeit innerlich aufgewühlt.
Ein dünner, hagerer Wallach steht mit aufgerissenen Augen stocksteif daneben, frisst aber trotzdem begierig Hafer in sich rein und schaut jeden, der sich ihm nähert, mit entsetzten Augen an. Angst scheint auch das größte Pferd in der Halle zu haben, eine erstaunliche, eine mächtige, wahrlich eine beeindruckende Gestalt. Heimlich zittert es vor sich hin, bebt in den Flanken und hält den Kopf gesenkt. So sieht es nichts und niemand, auch nicht den kleinen herausgeputzten Schimmel direkt ihm gegenüber, der, vermutlich stolz auf seine geflochtene Mähne und seinen geflochtenen Schweif, den mächtigen Kerl kühl anblickt, irgendwie missbilligend, fast strafend.
Andere wiehern unaufhörlich, um sich nicht so allein zu fühlen. Viele antworten. Sie kreischen zurück, als könnte man sich ins Behagliche schreien, als könnte Lärm beruhigen.
Die ersten Sonnenstrahlen des frühen Morgens werfen durch die hohen Dachfenster schwaches Licht auf die wogende Menschenmasse und auf die dampfenden Pferdeleiber.
Fünf Pferde, für die mit lauter Stimme einige Besucher Kaufinteresse bekunden oder zur eigenen Belustigung nur vortäuschen, werden auf einer strohbedeckten Gasse von Stallburschen, deren rote Gesichter vor Anstrengung bald blass werden, dem neugierigen Publikum vorgeführt. Pferdehändler, mit Hut und Zigarre, schwingen großmännisch ihre Peitsche, aufdringlich umringt von einer Traube Schaulustiger. Einer tut sich ganz besonders hervor. Je mehr Menschen er zu sich strömen sieht, umso unerbittlicher lässt er seine Peitsche knallen, so dass jedesmal alle Pferde in der Halle verängstigt zusammenzucken. Derweil zwingen sich die vorgeführten Pferde in einen möglichst sauberen Lauf. Stürzen sie, jagen sie wie vom Teufel verfolgt wieder hoch, tragen angestrengt den Kopf erhoben, nervös um Beherrschung ringend, erschrecken vor den Achtungsschreien ihres Besitzers und sind doch einzig um Gehorsam bemüht.
Reißt sich eines mal los, weil es sich nicht anders zu helfen weiß und irrt nun für einen kurzen Moment allein umher, wird es von den groben Händen der Stallburschen an der Mähne gepackt, herumgerissen und wie zur Strafe vor allen Leuten gewaltsam herbei geritten, und bei jedem Schritt knallt der mächtige Hintern des Reiters ihm ins Kreuz.
Ein stolzer Pintoreiter, der jeden beschimpft und auslacht, der ihm für sein Pferd, das er in versammelten Galopp zwingt, einen zu niedrigen Preis zuruft, thront über Stunden im Sattel und verkündet in schrillen Tönen die Vorzüge seines Pferdes, das sich anfangs, wie von ihm verlangt, ungestüm gebärdete, aber zusehends unter dem feurigen Stolz des auf ihm Triumphierenden zu leiden beginnt. Das sieht man am Gesicht, am ganzen Körper. Alle Leichtigkeit ist dahin, während der Besitzer weiter dahin schwelgt…
Die anderen Pferde in der Vorführgasse laufen behäbig und trotzig weiter ihre Runde, Stunde um Stunde, hören mit gespitzten Ohren, welche Vorzüge sie angeblich besitzen, kämpfen mit sich, die Erwartungen, die da schrill in die Halle geschrien werden, nicht zu enttäuschen, so als wüssten sie, um was es heute für sie geht.
Eine Menge Pferde sind es nun, die gleichzeitig laufen, sich in die Quere kommen, von Schreien und Zurufen verwirrt, mit den Hinterbeinen ausschlagen, wild den Kopf schütteln, irritiert durcheinanderlaufen und bald nicht mehr wissen wohin und wofür.
Da helfen auch Schläge der Zureiter mit der flachen Hand auf die Nüstern, das Reißen am Halfter durch’s Maul nicht mehr weiter. Anerkennendes Klopfen am Hals und zärtliche Worte ins Ohr auch nicht mehr, alles in unverständlicher Abfolge, unerträglich zum Ansehen.
Aber fast am aufgeregtesten scheinen die Pferdehändler zu sein. Sie gebärden sich, als wär’s heute der letzte Tag im Leben, und für manche ihrer Pferde ist es auch so. Da schlagen die nahezu hysterischen Herren bei jedem Wort, das sie in die Halle hinausschreien, dem ausgemachten Kaufwilligen in die Hände, brüllen ihn an: „Schlag doch endlich ein, ich komm doch auf dich zu, einen Hunderter lasse ich dir schon noch nach, aber schenken tue ich dir nichts, zier dich nicht so, einen Zehner noch für meinen Stallburschen…“ Da die meisten Kaufwilligen sich endlos zieren, laufen manche Pferde bis zum Mittag.
Eines lief überhaupt nicht. Den ganzen Vormittag bleibt es angebunden stehen, als ging das ganze Treiben ihn nichts an. Keiner wollte sich für ihn interessieren, und das schien ihm sogar recht zu sein. Anders sein jugendlicher Besitzer. Der kippt sich ein Bier nach dem anderen rein, schwingt sich auf das riesige Pferd mit Stockmaß über hundertfünfundachtzig, thront stolz und betrunken über allem und schreit: „Warum will ihn keiner? Das ist doch noch ein richtiges Pferd! Komm, setz dich mit drauf!“ Und während er die Leute, die ihn begaffen, anpöbelt, schlägt er dem Pferd mehrfach auf den Kopf.
Ruhe herrscht nur in den Seitenställen. Die Morgensonne scheint nun mit breiten Strahlen von den Oberfenstern herein wie mit hellen Scheinwerfern. 30 Kühe stehen still in einer Reihe und fressen zaghaft. Nach 30 Stunden Transport ist Futter jetzt im Übermaß vorhanden. Ein Besucher, der, als wär er allein, den Reißverschluss seiner Hose aufzieht, murmelt: „Die sind wohl aus dem Ausland, werden zwei Tage gefüttert und dann an den Metzger verkauft.“
Der Gestank von Urin wird stärker. In den vorwiegend leeren Seitenställen pissen immer mehr Leute ungeniert ins Heu. Toiletten gibt es keine.
Ein Kaltblüter, der aus den Fesseln blutet, wird vorbei an den Kühen zur Waage geführt. Der Metzger, der ihn soeben erstanden hat, knallt das mächtige Tier, das 20 Jahre vor einem Bierwagen geschuftet hat, in die Eisengestelle der Waage: 16 Zentner. Der Mann nimmt ungerührt seinen Gewichtsschein, 2 Euro das Kilo, und strebt entschlossen wieder der Verkaufshalle zu, ohne den alten, verbrauchten Kaltblüter eines Blickes zu würdigen, versunken in Gedanken, welches Pferd er sich als nächstes kauft.
Plötzlich ist er da. Der Gedanke an den Tod. Unter die Zuschauer mischen sich mehr oder weniger unauffällig Metzger, und für die Pferde, für die sie sich schon am frühen Morgen, bevor die Massen in die Halle strömten, interessierten, besteht seit Stunden allerhöchste Lebensgefahr.
So als ob die Pferde das spüren, legen sie sich ins Zeug. Versuchen ein Hinken zu verbergen, recken den Hals hoch, holen mit den Vorderbeinen unmenschlich weit aus, strecken sich, fallen in versammelten Galopp, pressen den Kopf an die Brust, reißen sich zusammen, der Schweiß rinnt an ihnen herab, während ein Kaufwilliger nach dem anderen unerbittlich verlangt: Noch mal von vorne!
Da laufen sie dann weiter, als wüssten sie, dass sie um ihr Leben laufen. Was bisher war, spielt keine Rolle mehr. Jeden Haltungsfehler verbergen! Die geringste Schwäche kann den Tod bedeuten. Ein Nachschleppen des Hinterbeines, der nicht korrekt gebogene Hals, seitliches Wegschleudern der Beine, der Senkrücken, versehentliches Ausschlagen, das Berühren der Beine beim Laufen, alles nachteilig ausgelegt beim kritischen Betrachter, alles den Tod bringend.
Und sie spüren es. Laufen um ihr Leben, reißen sich zusammen, halten immer noch den Kopf angestrengt oben, ziehen den Bauch ein, drücken den Senkrücken hoch, werfen mit letzter Kraft die Beine nach vorne, während unentwegt das sachkundige Publikum sich in Begutachtungen und niederschmetternden Urteilen ergeht.
Wenn dann draußen der Laster mit der Aufschrift „Schlachtvieh“ vorfährt und seine Rampe herunterlässt, ist alles gelaufen. Wer da hinauf geprügelt wird, für den war alles Gespür, alles Widerhalten heut, war der Kampf ums Überleben, – alles umsonst. Ein Schlag mit dem Knüppel auf die Kuppe, ein Stoß in die Flanke, drohende Rufe, ein Gang in den Tod. Zwar bringt der Tag heute für einige Pferde ein neues Leben, für manche von ihnen ist es heute für immer vorbei. Ein Abschied mit Schlägen.
Plötzlich, einzig und allein, der Gedanke an den Tod. Allein der Geruch von Urin und Blut. Alle Gedanken sind bei den Pferden, die in den Transportern mit der Aufschrift „Schlachtvieh“ ausschlagen, sich loszureißen versuchen, mit den Hufen klopfen und scharren, als suchten sie eine Antwort. Verzweifelt wehren sie sich gegen das, was jetzt passieren wird. Aber was genau mit ihnen geschieht, das wissen sie nicht. Es ist nur eine Ahnung, nur eine verdammt gewisse Ahnung.